kig Kultur in Graz. Plattform f?r interdisziplin?re Vernetzungsarbeit.

Lesen Programm Kulturarbeit Kurse Ausschreibung Jobs ausLage ?ber uns Links




´^` zurück    ! neu...     * alle kategorien


Nachrichten von Drüben - Budapest im Winter: Europa, Ungarn, und das Recht darauf, zu erfrieren, wo man will

Gewiss, ganz unbekannt klingt das Wort in Österreich nicht: Ungarn. Nicht unbedingt die Gegend, wo man sich am allerbesten auskennt, aber immerhin sind wir Nachbarn. In letzter Zeit kursieren die verschiedensten Gerüchte über Ungarn, vor allem aber kommen mir von Ausländern Aussagen zu Ohren wie: Ja, wir haben schon gehört, dass bei Euch Diktatur herrscht. Gut, so kann man es formulieren. Nur haben wir diese Diktatur selbst gewählt, mehr als eine Million Menschen haben aus freiem Willen dafür gestimmt.
Veranschaulichen wir uns das anhand eines Beispiels. Als ich gestern nach Hause schlenderte, kontrollierten sechs Uniformierte einen eben noch tief schlafenden Obdachlosen in der U-Bahnunterführung. Ich schaute genauer hin: es waren zwei Polizisten, zwei Ordnungswachen und zwei „Sozialarbeiter“ in Uniform. Ich ging nicht hin, obwohl es mir in den Sinn kam. Gleichgültigkeit ist heutzutage bei uns eine gute Taktik, um in den Stürmen der Politik und des Alltags zu überleben. Dieser obligaten Gleichgültigkeit bediente auch ich mich in diesem Fall. Wenn in unseren Breiten am helllichten Tag ein Mensch mitten auf der Straße liegt, ist es besser, einfach über ihn drüber zu steigen. Wenn jemand die Rettung ruft, muss er seine Daten angeben, die Frage ist, hat er die Zeit um abzuwarten, bis die Rettung kommt - falls sie überhaupt kommt. Würde man die Rettung wegen eines jeden Obdachlosen rufen, hätten die Sanitäter noch Zeit für die Kranken? Es waren nicht viele Leute an diesem Abend in der U-Bahnunterführung, es handelte sich um eine U-Bahnstation am Rande der Vorstadt. Das bekannte Motiv, man müsse die Touristen vor dem Anblick von Obdachlosen verschonen, war somit hinfällig. Wobei ja dieses Argument nicht mehr Logik aufweist, als den Versuch, vor Ausländern den wahren Zustand unseres Landes zu verbergen. Ich würgte an meiner Pizza, versuchte in die andere Richtung zu sehen, damit ich nicht mit ansehen musste, was passierte. Nicht, dass ich grundsätzlich eine Vogel Strauss-Politik einhalte, aber ich weiß, dass man in solchen Situationen nicht helfen kann. Der Polizist ist uniformiert, und damit erübrigen sich weitere Fragen.

Freilich ist es bezeichnend, dass wir uns in den anderen Dingen des Lebens oft ähnlich verhalten und sagen: Nein, nicht unser Problem, soll doch der da die Sache regeln. Wo ja die Gesellschaft, in der wir leben, der Staat, eine Art Garantie gibt und im Prinzip mit den Steuern und sonstwie eingehobenen Geldern die Gesundheitsversorgung und den öffentlichen Verkehr gewährleistet, und auch die Probleme der Obdachlosen löst.  Ist es ethisch, könnte ich mich fragen, den armen Obdachlosen zu drangsalieren, wo der doch ohnehin schon genug Unglück hat?  Den Armen drückt auch der Bettelsack, meint das Sprichwort. Einmal unterhielt ich mich mit einem Freund über die Bibel, ich sagte, dass einer der besten Sprüche von Jesus folgender war: Denn wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.
Was bedeutet das? - fragte mich mein Freund.  Vielleicht, dass wir mit der trivialen Formel leben müssen: Den Armen drückt auch der Bettelsack.  Ja, sagte mein Freund darauf und nickte.
Auch für ihn war bei der Privatisierung keine eigene Wohnung abgefallen, und mit der Hütte am Land, die er im Zuge des seinerzeitigen Tausches einer kleinen Budapester Wohnung, die damals nichts, aber heute schon einiges wert wäre, gekriegt hatte, konnte er auch nicht viel anfangen. Er musste arbeiten, hatte aber kein Auto, um damit zur Arbeit zu fahren, und auch keinen Gasherd, um sich das Essen zu wärmen. So versuchte er, wenigstens auf dem Heizkörper die kalten Konserven ein bisschen warm zu machen, die er nach Schichtende aus der Fabrik hinausschmuggeln konnte. Zu jedem dieser Themen und geschilderten Begebenheiten, könnten wir die Frage stellen, ob das ethisch ist oder war.
Und wenn ich eine Amtsperson fragen würde, warum sie so agiert, dass man nach jedem Satz die Frage nach der Ethik stellen kann, dann würde ein Polizist wohl antworten:
Es ist nicht ethisch, einen Menschen auf der Straße erfrieren zu lassen.
oder Es ist nicht ethisch, braven Staatsbürgern, die zur Arbeit fahren, auf der Straße die Begegnung mit heruntergekommenen, stinkenden Menschen zuzumuten.
oder Es ist nicht ethisch, dass die hier betteln und Menschen belästigen, die sich gerade in der Bäckerei etwas kaufen,
oder nur die Schaufenster betrachten,
oder ein Rendezvous mit dem Freund oder der Freundin haben.

Und was würde der körperlich heruntergekommene Obdachlose sagen?
Es ist nicht ethisch, dass Sie mich schikanieren, dass Sie mich nicht schlafen lassen, dass der Staat, für den Sie arbeiten und der mir keine Unterstützung, keine Arbeit und keine Bleibe zum Überleben anbieten kann, mich nicht einmal dort erfrieren lässt, wo ich will.
Da würden dann die Auseinandersetzungen erst richtig losgehen, die Emotionen hochschwappen, und wenn der arme Mensch dieser Art von Schikanen gegenüber noch nicht ganz abgestumpft ist, würde er wohl auf den Polizisten losgehen. Freilich, welchen Sinn sollte das haben? Der eine oder andere würde es dennoch tun, müsste aber aufpassen, im Verlaufe des Streits nicht den Satz zu sagen: Vielleicht bringt mich das ja ins Gefängnis, dann habe ich ein paar Monate ein Dach über dem Kopf. Dem Polizisten wäre augenblicklich klar, dass der Betreffende etwas im Schilde führt. Und nein, so einfach kriegt man kein warmes Plätzchen - nicht einmal im Gefängnis.
Wenn dann ein Journalist daherkäme und einen Artikel schriebe, und diesen ins Internet stellte, dann würden die Leute den Artikel auf Facebook posten, und viele würden ihn mit ihren Bekannten und Freunden teilen, die ganze Sache würde Dimensionen annehmen, dass sich daraus eine handfeste virtuelle Debatte entwickelt, die man eigentlich in einer einzigen Frage zusammenfassen könnte: Ist das ethisch?
So könnten wir sehen, dass Ethik nicht eine überholte Frage aus längst vergangenen Zeiten, sondern eine wichtige Frage unseres täglichen Lebens ist. Nur stellen wir die Frage oft nicht oder voreingenommen, sehen die Dinge nur durch die eigene Brille.

Alle in der Unterführung blickten entgeistert auf den Vorgang. Wer steht da auf welcher Seite, fragte ich mich. Manche sicher auf Seiten der Polizei, aber waren auch welche auf der Seite des Obdachlosen? Gab es selbst hier Parteien?
Hätte man die Polizisten mit ihrem Tun konfrontiert, hätten sie sich auf das Gesetz berufen, und vielleicht dachten sie auch, dass vom ethischen Standpunkt alles richtig war. Wurde das Gesetz nicht vom Volk geschaffen, oder zumindest von den vom Volk gewählten Politikern, und war es nicht der Wille des Volkes gewesen, jene zu wählen, die nun die Macht besaßen und per Gesetz verfügt hatten, dass es nicht ethisch ist, wenn Obdachlose auf der Straße liegen, weil sie da erfrieren? Dagegen könnte man sich hier auf bestimmte Paragraphen berufen, nach denen man ein Recht darauf hat, zu erfrieren. Beriefe man sich jedoch allzu beharrlich darauf, dann könnte es sein, dass eben ein neues Gesetz verabschiedet wird: Es ist verboten – und zugleich unethisch – aus eigenem Willen auf der Straße zu erfrieren. Und jeder hätte sich daran zu halten: auch wenn er keine Arbeit hat, kein Geld und gerade verhungert.

Danach könnten wir natürlich tausend- und zehntausendfach an die aktuellen  politischen Nachrichten die Frage richten: Ist das ethisch und korrekt?
Ist es ethisch vertretbar, einen Politiker schlecht zu machen, der nur Gutes will? Aber ist es seinerseits ethisch vertretbar, seine Macht zu missbrauchen, und Gesetze zu verabschieden, die die ärmeren Schichten noch ärmer machen? Ist es ethisch vertretbar haltlose Anschuldigungen zu erheben und ein tagespolitisch aktuelles Ereignis in schlechtem Licht erscheinen zu lassen, von dem sich dann herausstellt, dass es gar nicht so war? Ist es einerseits ethisch vertretbar das Volk zu belügen, andererseits den Menschen über Anwälte und Juristen ausrichten zu lassen, was sie für Sünden begangen haben? Ist es ethisch, eine Regierung an der Macht zu belassen, wenn diese schon vielmals als korrupt und in diverse Affären verstrickt entlarvt wurde? Ist es andererseits ethisch vertretbar auf die vom Volk anvertraute Führungsposition zu verzichten und das Land so im Stich zu lassen?
Endlos wäre die Reihe der Sätze, die wir mit dieser Frage beginnen könnten, und die Diskussion wäre lange, was wann als ethisch zu gelten habe. Wo der Maßstab zu finden wäre, der uns sagt, wie wir zu handeln haben, woran wir uns halten sollten, was Demokratie bei den Griechen war und was sie in der heutigen Zeit bedeutet.

Hier handelt es sich nur um eine Annäherung, die es mir ermöglicht hat, einen kleinen Einblick zu geben, was sich in unseren Breiten in der Politik abspielt und wie man darüber im Jahre 2014 denken kann.
Ich könnte über Fakten berichten, könnte entlarvende Sachverhaltsdarstellungen abgeben, Aufdeckerreportagen über die miserable Lage des Landes, die fragwürdigen  politischen Indikatoren und über die enttäuschenden wirtschaftlichen Daten schreiben, aber das tue ich jetzt nicht. Da auch das vielleicht ethisch nicht vertretbar wäre, weil ich damit ein subjektives Bild meines Landes zeichnen würde, und jeder nach seinem eigenen Verständnis die Situation so zusammenfassen würde: Aha, das ist jetzt also diese Diktatur, von der man schon so viel gehört hat.
Indessen kann es auch sein, dass ich ohnehin nur objektive Tatsachen über eine wirtschaftliche und kulturelle Situation geschildert habe, von der wir nicht wissen, was – gesetzt den Fall, sie wäre nicht, wie sie ist – an ihre Stelle käme?
Als Fiktion zumindest der perfekte Staat, und die perfekte Gesellschaft als Utopie.

Von Akos Vilmos Gazda
Übertragen aus dem Ungarischen von Franziska Kuebeck und Harald Fleischmann 
Überarbeitung von Sahra Gabriele Foetschl

Bild (c)  commons.wikimedia.org
...




[Artikel/Sahra Gabriele Foetschl/09.01.2015]





    Artikel/Sahra Gabriele Foetschl


    11.03.2016 JUNGLE NEWS TODAY # FACTS THAT MATTER

    15.02.2016 JUNGLE NEWS TODAY

    14.01.2016 JUNGLE NEWS TODAY # FACTS THAT MATTER

    10.12.2015 Der Gutmensch, der Jedermannsfreund und der Zwangskosmopolit und die glückliche Fügung aller Menschen der Welt zu einem Ganzen

    23.11.2015 Der Ex-Chatfreund

    21.10.2015 Kann man hier nicht mal in Ruhe herumasylen?

    09.01.2015 Nachrichten von Drüben - Budapest im Winter: Europa, Ungarn, und das Recht darauf, zu erfrieren, wo man will

    05.12.2014 Nachrichten von Drüben - Eine Ungarische Novelle

    03.09.2014 der bauer

    25.07.2014 Die Pammerin

    #modul=kig_rotation##where aktiv=1# #modul=kig_rotation#

    Volltextsuche
    KiG! Mailingliste: @

    CROPfm

    <#no_bild#img src={bild}>{text}
    <#no_bildklein#img src={bildklein}> {headline}





    KiG! lagergasse 98a - A - 8020 graz - fon & fax + 43 - 316 - 720267 KiG! E-Mail.